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Herausforderungen im Leseerwerb

Im Oktober 2022 veröffentlichte das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB an der Humboldt Universität Berlin) im Auftrag der Kultusministerkonferenz aktuelle Zahlen zu den Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten von Grundschulkindern am Ende der Klasse 4 (IQB – IQB-Bildungstrends: Nationales Bildungsmonitoring auf Basis der Bildungsstandards der KMK (hu-berlin.de) 1Stanat, P. Schipolowski, S., Schneider, R., Sachse, K., Weirich, S. & Henschel, S. (Hrsg.) (2022). IQB-Bildungstrend 2021. Kompetenzen in den Fächern Deutsch und Mathematik am Ende der 4. Jahrgangsstufe im dritten Ländervergleich. Abgerufen 24.10.2022 von https://www.iqb.hu-berlin.de/bt/BT2021/Bericht/ :

Im Jahr 2021 erreichten demnach bundesweit 18,8% der Kinder die Mindeststandards im Lesen und 30,4% in der Rechtschreibung nicht. Für das Land NRW lagen die Zahlen noch darüber: 21,6% bzw. 32,6% der Kinder sind am Ende der Klasse 4 nicht in der Lage, die erwarteten Anforderungen im Lesen bzw. Rechtschreiben zu erfüllen. Die Zahl der Kinder mit Lese-Rechtschreibschwierigkeiten ist also hoch, wobei auffällt, dass offenbar nicht alle Kinder mit Rechtschreibschwierigkeiten auch Leseschwierigkeiten haben.

Es ist auch nicht davon auszugehen, dass es sich immer um spezifisch ausgewiesene, massive Lese-Rechtschreibstörungen handelt. Wissenschaftliche Untersuchungen beziffern den Anteil von Kindern mit Lese-Rechtschreibstörungen auf vier bis acht Prozent über die gesamte Grundschulzeit. 2Mayer, A. (2018). Gezielte Förderung bei Lese- und Rechtschreibstörung. (3. Aufl.) Reinhardt Verlag, S.8

Internationale Definition laut ICD-10

Die von der WHO herausgegebene „Internationale Klassifikation der Krankheiten“ unterscheidet in ihrer in Deutschland noch gültigen Fassung, der sog. ICD-10 (eine Aktualisierung ist in Bearbeitung), zwischen einer Lese-Rechtschreibstörung (Code F 81.0) und einer isolierten Rechtschreibstörung (Code F 81.1). Dies korrespondiert mit den Befunden des IQB-Bildungstrends. Die ICD-10 weist in ihrer Definition aus, dass insbesondere Rechtschreibschwierigkeiten bis in das Jugend- und Erwachsenenalter andauern können, selbst wenn Leseschwierigkeiten sich verringern.

Auch der Hinweis auf die einhergehenden emotionalen Schwierigkeiten sowie mögliche Verhaltensauffälligkeiten ist beachtenswert. Schulisches Lernen baut maßgeblich auf Kompetenzen im Lesen und Schreiben auf, sodass ausbleibende Lernerfolge leicht zu Frustration und Misserfolgsorientierung führen können.

Internationale Definition laut ICD-10 (© Leibniz Universität Hannover | Bahr, 2022)

Zur Begrifflichkeit: Störung, Schwierigkeit oder Schwäche

Traditionell wurde der Begriff „Lese-Rechtschreib-Schwäche“ als Synonym für „Legasthenie“ verwendet und seinem Selbstverständnis nach als Persönlichkeitsmerkmal angesehen, das auf Kinder anzuwenden ist, die trotz durchschnittlicher Intelligenz unterdurchschnittliche Werte im Lesen- und Rechtschreiben erreichen, jeweils gemessen mit standardisierten Tests (sog. „Diskrepanzkriterium“). Diese Zuschreibung verkennt jedoch, dass auch Kinder mit normabweichender Intelligenz von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten betroffen sein können.

Von daher ist es sinnvoll, bei Auffälligkeiten im Lesen und Rechtschreiben allgemein von Schwierigkeiten zu sprechen. Erst wenn diese so massiv sind, dass sie kurzfristig nicht behoben werden können, ist von einer regelrechten Lese-Rechtschreib-Störung auszugehen, bei der eine langfristige Intervention, gegebenenfalls auch sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf angezeigt ist:

Definition Lese-Rechtschreibstörung (Mayer, 2018, S. 9 | © Leibniz Universität Hannover | Bahr, 2022)

Merkmale einer LRS – im Bereich der Lesekompetenz

Schon in den ersten drei Monaten nach Schuleintritt, also in der Regel bald nach Beginn eines systematischen Unterrichts im Schriftspracherwerb zeigt sich, welche Kinder mittelfristig Schwierigkeiten beim Lesen- und in der Folge auch beim Rechtschreiblernen bekommen könnten. Früh erkennbare Auffälligkeiten sind:

  • Schwierigkeiten, sich die Buchstaben-Laut-Zuordnung zu merken
  • Eingeschränkte phonologische Bewusstheit
  • Schwierigkeiten bei der Lautsynthese
  • Schwierigkeiten bei der Silbensynthese
  • Eingeschränkte Leseflüssigkeit
  • Zögerliche Automatisierung der Worterkennung

Sehen Sie dazu:

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Checkliste zur Leseflüssigkeit und zum Leseverständnis

Nicht bei allen Kindern beruhen beobachtete Schwierigkeiten auf dem gleichen Hintergrund. Mayer (2018) unterscheidet hier drei Subgruppen:

Kinder mit phonologischen Defiziten, aber durchschnittlichen lautsprachlichen Fähigkeiten.
Kinder mit durchschnittlichen phonologischen Fähigkeiten, aber mit semantischen und/oder grammatischen Defiziten.
Kinder mit umfassenden sprachlichen Defiziten.

Konsequenzen für die Diagnostik & Förderung

Die Diagnostik von Schwierigkeiten beim Schriftspracherwerb findet im Klassenraum informell durch tägliche Beobachtung des Lernverhaltens statt. Individuelle Lernstandsanalyse-Materialien für die Schuleingangsphase, die auch Fortschritte im Lesen einbeziehen, sind zum Teil kostenlos online verfügbar, so z. B. auf den Seiten des Bildungsservers Berlin-Brandenburg (ILeA-Materialien für die 1.-6. Klasse: ILeA 1 (BB) | Bildungsserver Berlin -Brandenburg). Sofern formell erhobene Daten gebraucht werden, also Normwerte, die sich an einer statistisch abgesicherten Vergleichsstichprobe orientieren, kann man z. B. ab der 2. Klasse das Salzburger-Lese-Screening (SLS 2-9) 3Mayringer, H. & Wimmer, H. (2014). Salzburger Lese-Screening für die Schulstufen 2-9. Hogrefe. verwenden. Der darin ermittelte Lesequotient fußt auf gleichzeitiger Ermittlung der Lesegeschwindigkeit und des Leseverständnisses. Der Lesequotient ermöglicht eine Einteilung nach Leistungsgraden. Ein schwacher (<80) oder sehr schwacher (<70) Lesequotient weist auf eine Leserechtschreibstörung hin. Die Frage nach sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf im Schwerpunkt Sprache könnte sich daraus ergeben, ebenso wie die nach Gewährung von Nachteilsausgleichen.

In jedem Fall muss die Gesamtsituation des Kindes berücksichtigt werden. Bei der Förderung von Kindern mit Leseschwierigkeiten gelten folgende, beinahe selbstverständlich erscheinende Maximen uneingeschränkt:

Grundsätze zur LRS-Förderung (© Leibniz Universität Hannover | Bahr, 2022)

Zwar können Leseschwierigkeiten im Einzelfall auch auf unerkannten Problemen der visuellen Wahrnehmung beruhen (Raum-Lage-Erkennen), jedoch lassen sich diese Probleme bezüglich des Lesens nicht durch allgemeine Wahrnehmungsübungen („Schau genau“) überwinden. Übungen müssen also mit Buchstaben-, Silben- und Wortmaterial erfolgen, und zwar regelmäßig möglichst in hoher Frequenz. Getreu der im Sport verbreiteten Maxime „Use it or lose it“ („Gebrauche es oder verliere es“) wird nur die fortlaufende Auseinandersetzung mit schriftsprachlichem Material zu automatisierter Geläufigkeit führen. Kinder mit Schwierigkeiten geraten allerdings allzu leicht in einen bedenklichen Teufelskreis:

Teufelskreis LRS (© Leibniz Universität Hannover | Bahr, 2022)

Um zu verhindern, dass Kinder, denen das Lesen Mühe macht, schnell in eine Abwärtsspirale sich anhäufender und selbst verstärkender Misserfolgserfahrungen geraten, ist es wichtig, ihnen schnell nachhaltige Erfolge zu vermitteln. Dabei kommt es darauf an, die richtige Passung zwischen Anforderungen und Leistungsmöglichkeiten zu finden. In der Schulklasse ist insbesondere Freiarbeitsmaterial dazu geeignet, Kinder in regelmäßig wiederkehrenden Arbeitsphasen geeignete Übungen selbst wählen zu lassen.

Dabei sollte die Lehrerin oder der Lehrer es akzeptieren, wenn wiederholt dasselbe Material genommen wird, da dies dem Kind Sicherheit sowohl hinsichtlich seiner Lesefertigkeiten als auch emotional, also unter dem Gesichtspunkt der Erfolgserwartung, gibt. Für die Freiarbeit eignen sich insbesondere auch computergestützte Lernprogramme, mit denen das Kind im Idealfall auch zu Hause arbeiten kann. In der Regel ist es für ein Kind dabei besonders motivierend, höhere Leistungslevel zu erreichen.

Quellen

  • 1
    Stanat, P. Schipolowski, S., Schneider, R., Sachse, K., Weirich, S. & Henschel, S. (Hrsg.) (2022). IQB-Bildungstrend 2021. Kompetenzen in den Fächern Deutsch und Mathematik am Ende der 4. Jahrgangsstufe im dritten Ländervergleich. Abgerufen 24.10.2022 von https://www.iqb.hu-berlin.de/bt/BT2021/Bericht/
  • 2
    Mayer, A. (2018). Gezielte Förderung bei Lese- und Rechtschreibstörung. (3. Aufl.) Reinhardt Verlag, S.8
  • 3
    Mayringer, H. & Wimmer, H. (2014). Salzburger Lese-Screening für die Schulstufen 2-9. Hogrefe.

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